Der Koch
Der Bremerhavener Viermast-Schoner GEORG KIMME hatte die Straße von Yucatan passiert und befand sich mit einer Ladung Stückgut mitten im Golf von Mexiko. In leichter Dünung und
vorhandiger Backstagsbrise segelte er seinem Ziel New Orleans entgegen. Die Sonne schickte ihre glühenden Strahlen auf das ausgetrocknete Deck des Schiffes. Träge verrichtete die Besatzung
ihre Arbeit in einer Backofenhitze, die der leichte Passat nicht zu mildern vermochte.
Sehr übel dran war der Koch. Er lag krank darnieder und klagte über heftige Kopf- und Leibschmerzen. Dabei war das stickige Logis schon für einen Gesunden alles andere als ein angenehmer Aufenthaltsort.
Diesen Umständen, der vom Reichsgesundheitsamt im Jahre 1929 herausgegebenen "Anleitung zur Gesundheitspflege auf Kauffahrteischiffen" und der damit vom Steuermann gehandhabten Praxis sowie der nunmehr von
einem Jungmann zubereiteten schmalen Kost war der Lebensnerv des Smutes eines Tages nicht mehr gewachsen. Er starb auf hoher See.
Da man nicht innerhalb der vorgeschriebenen Zeit Land erreichen konnte, stand ein Seemannsbegräbnis bevor.
Sorgenvoll blätterte der Kapitän in dem an Bord vorhandenen Neuen Testament, dem er bislang noch nie irgendwelche Beachtung geschenkt hatte. Ob er wollte oder nicht, zu diesem Fall mußte er einige Worte sagen, obwohl er darin kein feierliches, sondern vielmehr ein ärgerliches Ereignis sah, bei dem er, um das Gesicht nicht zu verlieren, das Schiff auch noch stoppen mußte, war ihm innerlich verdammt überflüssig vorkam. Jede gewonnenen Meile war bares Geld, und letzteres wußte er als echter Seemann und Vertreter des Reeders wohl zu schätzen. Außerdem mußte im dollarschweren Amerika ein neuer Koch gefunden werden, der für deutsche Heuer fahren würde.
Als der Tote nun, eingenäht in eine Persenning, auf einem Lukendeckel aufgebahrt, an Deck stand, der Schoner mit dem Kopf auf der See dümpelte, während die Großsegelschoten aufgefiert waren, um die Fahrt aus dem Schiff zu nehmen,
hielt Kapitän Brünjes vor versammelter Besatzung eine Predigt, die eigentlich nur im Vorlesen des Vaterunsers bestand. Mit dem Amen war die Zeremonie beendet und auf den Befehl: "Denn man to!" rutschte der Koch in sein Grab - nach
dem ökonomischen Prinzip natürlich ohne Lukendeckel.
Eine weitere Sparmaßnahme erwies sich als verhältnismäßig verhängnisvoll. Man hatte dem Toten einen gewöhnlichen und daher viel zu leichten Schäkel zur Beschwerung mitgegeben. Als zusätzliches Unglück erwies sich in diesem
Zusammenhang der Umstand, daß man erst viel zu spät entdeckt hatte, daß der Koch überhaupt verstorben war. Die Leichenstarre war bei angewinkelten Knien eingetreten, und hier hatte sich unter der Persenning Luft angesammelt: Der Mann ging nicht unter.
Beim besten Willen nicht. Minutenlang blieb er neben dem Schiff und weil man einen Segler nicht so genau auf der Stelle halten kann, trieb der Tote langsam achteraus.
Das Gesicht des Kapitäns wurde immer länger. Es war nämlich strenge Vorschrift, daß eine der See übergebene Leiche untergehen mußte. Vermutlich würde sie jetzt irgendwo antreiben, und man würde Nachforschungen anstellen. Seine Miene wurde finster,
als er die weiteren Maßnahmen bedachte, deren Korrektheit durch das Archimedische Prinzip unmöglich gemacht wurde: genaue Eintragung des Sterbefalls in das Tagebuch mit Gegenzeichnung durch den Steuermann und Hinweis auf das Sterberegister. Davon mußten je zwei Abschriften
dem deutschen Konsul in New Orleans übergeben werden. Später mußte das Tagebuch und der Anhang dazu, nämlich das Sterberegister, der Aufsichtsbehörde des Standesamtes im ersten deutschen Hafen vorgelegt werden. Last but not least mußten die Verwandten benachrichtigt werden,
die vermutlich auch daran interessiert waren, daß ihr Familienoberhaupt nicht irgendwo an der Küste von Mexiko wieder antrieb.
Diesen Schwierigkeiten und Gewissenskonflikten gegenüber stand die Unterbrechung der Reise als Verdienstausfall, die bei einem nunmehr nötigen Mann-über-Bord-Manöver, Drehung eines Vollkreises bei mäßiger Brise, dem Aussetzen eines Bootes und nochmaligen Beschweren der
Leiche gut einige Stunden hätte ausmachen können.
Die Besatzung beobachtete den Kapitän, und er fühlte sich beobachtet, während Pflichtbewußtsein und gesundes kaufmännisches Empfinden in ihm um die Oberhand kämpften. Die Sekunden wurden zu Minuten, während sein Blick fest auf dem friedlich in der Dünung auf und ab bewegenden Koch ruhte.
Plötzlich entschied er sich für das Fortsetzen der Reise und er brüllte seine Leute an: "Kiekt dor nich hen, de is all lang weg!"
Die Tagebucheintragung konnte "vorschriftsmäßig" erfolgen.