Es gibt Leute, die muss man einfach für vermessen halten. Die buchen einen Zehn-Tage-Törn mit einer Segeljacht zum Kap Hoorn, obwohl sie gar nicht segeln können. Als ob sich die Südspitze Südamerikas umrunden ließe wie die Insel Mainau im Bodensee. Als hätte das Reich der Stürme nicht schon oft seinen Tribut gefordert. Aber egal wie - sie wollen die berüchtigtste Ecke der sieben Weltmeere sehen.
Zwischen Antarktis und südamerikanischem Kontinent treffen dort die Wogen des Atlantiks mit denen des Pazifiks zusammen, überlagern sich und lassen im Sturm unberechenbare Kreuzseen von bis zu 18 Metern Höhe entstehen. Unzählige Schiffe sind dort schon zerschmettert worden, unzählige Seeleute ertrunken. Selbst mitten im Sommer werden Schiffe in den Gewässern am Kap immer mal wieder von Schneestürmen und Frosteinbrüchen überrascht.
Auf so etwas waren die fünf neuen Gäste der "Santa Maria" eingestellt. Aber dann ist ihr Flugzeug in Ushuaia auf Feuerland bei strahlendem Sonnenschein gelandet, und Wolf Kloss, der deutsche Eigner und Skipper der Jacht, erzählt beim Begrüüungsbier mehr von Flauten als von sturmzerfetzten Segeln. Und schon steigt in den Neulingen der Mut von Maulhelden hoch.
Ushuaia ist die südlichste Stadt Argentiniens und zugleich der Welt. Der 35 000-Einwohner-Ort liegt an einer weiten Bucht des Beagle-Kanals, der Grenze zwischen Argentinien und Chile. Vom Wasser her ziehen sich die meist aus Holz errichteten Häuser malerisch die Hünge der umliegenden schneebedeckten Berge hinauf. Seit der Tourismus Ushuaia als Ausgangspunkt zur Erkundung Feuerlands entdeckt hat, schieüen überall kleine Hotels und Pensionen aus dem Boden. Viele Restaurants haben erüffnet und bieten als Spezialität Centollas an, riesige Königskrabben, die oft einen Meter Durchmesser und mehr erreichen, wenn man ihre angewinkelten Beine lang zieht.
Zunüchst scheint es, als hätte die Gastmannschaft Glück. Die "Santa Maria" legt bei Sonnenschein in Ushuaia ab und segelt zwischen den hohen Bergen beiderseits des Beagle-Kanals hindurch bis zum chilenischen Militärhafen Puerto Williams, dem letzten größeren Außenposten der Zivilisation. Von dort fährt der Törn bis in den Atlantik und dann entlang unbewohnter Inselgruppen in Richtung Antarktis.
Zur Sicherheit muss sich Wolf nun zweimal täglich per Funk bei der Marine melden. Der Wind frischt merklich auf, und das Klima wird rauer. Die Inseln, in deren Windschatten sie nachts Anker werfen, werden karger. Bäume finden sich nur noch in windgeschützten Mulden und Felsnischen. Immer häufiger sichten sie Pinguine im Wasser. Gelegentlich tauchen in der Bugwelle des Bootes auch Delfine auf. Manchmal fahren sie mit dem Schlauchboot ans Ufer. Auf einer der Inseln zeugt ein verlassenes Militärlager von der Zeit der Eskalation, als Chilenen und Argentinier vor ein paar Jahren wegen einiger Inseln der Region am Rande eines Krieges standen.
Nach vier Reisetagen ist das Ziel schließlich erreicht. Der Wind hat sich fast gelegt, dennoch geht die Dünung fast zwei Meter hoch. Der Zusammenprall der Ozeane und der steile Anstieg des unterseeischen Festlandsockels lassen das Meer wogen. Aber die Wellen sind so breit und steigen so langsam an, dass sie kaum zu spüren sind.
Das Kap erhebt sich als gewaltiger, zerklüfteter Felskegel aus 75 Metern Tiefe, taucht in einem Kranz aus Gischt aus dem Wasser, grasbehängt und rau, und endet in 424 Metern Höhe. Wie gebannt starren Skipper, Bootsmann und Gäste hinauf zur Spitze und hinüber zum Leuchtturm weiter östlich. Und wie um ihr Glück voll zu machen, streicht ein Albatros auf meterweiten Schwingen heran, das Symboltier des Klubs der Kap Hoorniers, jener Kapitäne, die mindestens einmal einen Großsegler um die gefürchtete Landmarke gesteuert haben. Minutenlang segelt der Vogel so flach über die See, dass er sie fast berührt.
Auf der anderen Seite des Kaps gehen sie in einer kleinen Bucht an Land und steigen hinauf zum Leuchtturm. Das Signalfeuer am Ende der Welt wird von einer Soldatenfamilie gewartet. Das Ehepaar und die beiden Kinder haben die Ankunft der Segler beobachtet und das Große lederne Kap-Hoorn-Buch mit den Namen aller Landgänger vorbereitet, in das sich die Ankümmlinge eintragen. Die stoßen mit Wodka an und ahnen nicht, dass sie dabei sind, ihre Reise zu früh als glücklich beendet zu betrachten.
Denn bald hebt Rasmus, der Gott des Windes, sein Haupt und zwingt sie an der nächsten größeren Insel in eine Bucht. Der Herr der Stürme fordert seinen Tribut. In der Nacht ist an Schlaf nicht zu denken. Der Sturm heult in der Mastspitze, klappert mit den Karabinerhaken und klatscht die Wellen an die Bordwand. Am Morgen sehen sie, was sie in der Nacht nur ahnen konnten: Brecher um Brecher rauscht in die Bucht, Gischtfetzen verlieren sich als nasser Schleier in der Luft, Eisschauer verhüllen das umliegende Ufer. Das Thermometer zeigt zwei Grad plus, der Windmesser 60 Knoten (111 Stundenkilometer). Windstärke zwölf.
Zwei Tage sitzen sie in ihrer Bucht fest, dann flaut der Orkan ab. Wolf läßt Schwimmwesten und Sicherungsleinen anlegen und den Anker aufholen. Auf der offenen See schäumt es immer noch, und den Mitseglern drehen sich die Mügen um. Ihr Interesse für Pinguine, Robben und Delfine ist erloschen. Doch der Wind weht von achtern und treibt sie voran. Als sie Ushuaia mit zwei Tagen Verspätung erreichen, sind die Rückflüge längst verfallen. Zum symbolischen Tribut kommt nun noch ein materieller hinzu - es durchquert eben niemand das Reich der Stürme, ohne dafür zu zahlen. Aktuelle Stories von früher im Archiv